Ankunft in San Salvador
Nach einer durchzechten und durchtanzten Nacht bei meiner Gastfamilie in Managua landete das Flugzeug auf dem internationalen Flughafen von San Salvador. Nur drei oder vier Passagiere verliessen die Maschine. Das erstaunte mich. Flogen die anderen alle nach Mexiko weiter? Ich passierte die Waren- und Passkontrolle problemlos. In den Pass gab’s einen Stempel E (Entrada) und die handschriftliche Zahl 10, die ich nicht verstand und von der ich auch kaum Notiz nahm, was sich noch als gravierender Fehler herausstellen sollte.
Dann verliess ich die Flughafenhalle, um ein Taxi zu nehmen. Es gab aber keines. Ein Mann sagte mir, dass am Nachmittag die microbuses eintreffen würden, um Personen in die 50 km entfernte Hauptstadt zu transportieren. Am Nachmittag! Jetzt war kaum 11 Uhr. Ich wartete und wartete. Mir fielen die verschiedenen bewaffneten Uniformierten auf, wahrscheinlich Grenzpolizei, Sicherheitspolizei, Militär, Zollbeamte. Ein Salvadorianer, der auf seinen Wagen wartete, beklagte sich über die vielen Militärs im Land. Ich liess mich aber nicht darauf ein. Einzelne Autos kamen und fuhren ab. Einige mussten den Bewaffneten etwas bezahlen, offenbar damit sie Passagiere bzw. Waren transportieren durften.
Ein jofer von einem Pick-up fragte mich, ob ich in die Hauptstadt mitfahren möchte. Auf der Ladefläche waren noch weitere Männer, anscheinend Arbeiter, von denen ich nicht wusste, ob sie zum Chauffeur und seinem Pick-up gehörten oder ob sie zahlende Passagiere seien. Ich fragte ihn, wie viel er für die Fahrt in die Hauptstadt verlange. Er wollte 50 Colones. Ich stieg ebenfalls auf die Ladefläche zu meinem Rucksack. Wir fuhren los. Nach einiger Zeit bogen wir von der Hauptstrasse ab. Dann verliessen bis auf einen Passagier alle das Fahrzeug. Der jofer bat mich, in der Kabine Platz zu nehmen. Ich wechselte in die Kabine. Wir fuhren weiter. Erst jetzt beschlich mich eine Unruhe, weil mein Gepäck zu Füssen des letzten Salvadorianers lag, von dem ich ja auch nicht wusste, ob er zum Fahrer gehörte oder ob er ein zahlender Passagier war wie ich. Jedenfalls war das eine ideale Möglichkeit, unbehindert und unbeobachtet meinen Rucksack zu plündern. Ich wurde unruhig. Wir fuhren … Nach einer knappen Stunde tauchte San Salvador auf. Der letzte Passagier auf der Ladefläche verliess unser Fahrzeug. Ich erklärte meinem jofer, dass ich ins Hotel Ritz Continental wollte. Er sagte, er wisse, wo sich das befinde. Er wusste es nicht und hatte keine Ahnung vom Kartenlesen. Wir fuhren noch mindestens eine halbe Stunde in der Stadt herum, kamen aber immer wieder an den gleichen Häusern vorbei. Immer wieder musste er anhalten und Passagiere nach dem Weg fragen. Ich wollte auf ein Taxi umsteigen. Er liess mich aber nicht gehen. Schliesslich fanden wir das Hotel. Als ich ihn bezahlen wollte, hatte ich dummerweise eine 50-Dollar-Note in der Hand, bemerkte meinen Irrtum gerade noch rechtzeitig. Er aber versteifte sich nun auf die Behauptung, der abgemachte Fahrpreis sei 50 US-$ und nicht 50 Colones. Ich wandte mich an die Recepcion. Sie fand den Preis zwar hoch, wollte sich aber nicht einmischen, weil sie nicht wisse, was wir abgemacht hätten. Schliesslich drohte ich mit der Polizei. Endlich verschwand er mit einem verdriesslichen Gesicht. Ich erledigte das Check-in. Dann zeigte man mir das Zimmer. Es gab nur Doppelzimmer. Ich duschte und streckte mich dann aufs Bett, um die heutige Reise erst mal zu verdauen. Der Kater von heute morgen hatte sich bereits gründlich verzogen.
Der Geist von Pfingsten
Ich war am 04. Juni 87 mit dem Flugzeug von Managua, Nicaragua, nach San Salvador gereist und in der Hauptstadt im Hotel Ritz Continental gestrandet.
Am späteren Nachmittag versuchte ich ein Taxi zu kriegen, um Padre Daniel aufzusuchen. Aber natürlich wollte ich nicht einfach vor dem Hotel abgeholt werden. Ich wusste ja, dass ich vorsichtig sein musste. Dies besonders deshalb, weil viele Militärs eigene Taxiunternehmen betreiben und die Taxichauffeure als Ohren der Armee bekannt sind. Aus diesem Grund begab ich mich auf die Strasse, flanierte zunächst ein wenig und schaute, ob ich irgendwo ein Taxi auftreiben könne. Natürlich gab es viele. Aber keines erweckte Vertrauen. Ich verlor den Mut. Erfolglos liess ich es bleiben, kaufte Früchte, und dann trank ich un refresco und kehrte ins Hotel zurück. Am folgenden Tag, einem Freitag, unternahm ich den nächsten Versuch. Wieder hielt ich Ausschau nach einem Vertrauen erweckenden Taxichauffeur. Aber weit und breit war keiner, oder dann nur in Momenten, wo ich mich zu beobachtet fühlte. Ich kam in ein ruhigeres Quartier. Aber hier waren die Taxis nicht mehr häufig. Die, welche ich sah, warteten nicht auf Gäste. Nach einiger Zeit hielt ich eines an. Ich fragte den Chauffeur, ob er das Quartier Quiñones kenne. Dorthin wolle ich. Er bejahte. Ich vereinbarte einen Preis und stieg ein. Auf dem hinteren Sitz sass eine ältere Frau. Ich dachte, es könnte die Mutter des Fahrers sein. Wir fuhren. Plötzlich fragte er die Frau nach dem Weg. Ich stutzte. Tatsächlich wusste er nicht, wo mein Ziel lag. Er musste mehrmals anhalten und Passanten nach dem Weg fragen. Wir wendeten und fuhren wieder durch das Zentrum, dann in ein Aussenquartier. Es wurde armselig und schmutzig. Schliesslich bogen wir von der Strasse ab in ein Hüttenviertel. Mir wurde mulmig im Magen. Leute standen am Wegrand, schauten nach dem gelben Taxi. Wer mochte in einem Taxi in ein solches Quartier kommen?
Es gab keine Asphaltstrasse und offensichtlich auch keine Kehrichtbeseitigung. Schliesslich hielten wir vor einer kleinen Kirche, eher einer Kapelle. Hier wohnte also P. Daniel. Ich stieg aus und fragte eine Frau nach P. Daniel. Er sei nicht zu Hause, antwortete sie, ich solle morgen wieder kommen. Pues! Der Taxichauffeur schien das gewusst zu haben. Er hatte auf mich gewartet und bot mir an, mich wieder ins Zentrum zu fahren. Ich war einverstanden.
Am folgenden Tag wiederholte ich meine Taxifahrt mit dem gleichen Ergebnis: Einige Frauen hatten mir den Rat erteilt, am sichersten sei es, wenn ich am Sonntag um 9 Uhr in die Messe käme. Dann sei P. Daniel hier.
So fuhr ich am Pfingstsonntag zum dritten Mal in dieses Viertel. Eine Frau führte mich einen sandigen Abhang hinauf. Nieselregen. Am Fluss Alte und Junge bei ihrer Sonntagstoilette. Wir gelangten zu einer Baustelle. Das war die entstehende Kirche, wo der gesuchte Padre in einer Stunde den Sonntagsgottesdienst lesen würde. Einige Jungen waren damit beschäftigt, Bänke für die Messe herbeizuschleppen. Meine Führerin verabschiedete sich. Ich wartete. Plötzlich kam ein Mann, der mich den Hügel hinunter führte. Ich dachte eigentlich, dass ich ihm helfen sollte, irgendetwas in die Kirche zu tragen. Denn diese Kirche war ja noch nicht fertig. Sie bestand nur aus einem soliden Dach aus Zinkblech auf Holzpfeilern. Aber dann deutete der Mann auf eine Person und sagte, das sei der Padre, den ich suche. Also ging ich zum Padre und stellte mich vor. Wie konnte ich mit ihm sprechen? Er war nicht allein. Jedenfalls überbrachte ich ihm mündliche Grüsse von compañeros, die im nicaraguanischen Exil lebten. Der Padre begrüsste mich und meinte, dass wir nach der Messe noch miteinander reden könnten. Denn jetzt hatte er tatsächlich alle Hände voll zu tun. Er installierte Lautsprecher, gab den Leuten Auskunft, instruierte andere, was sie wie zu tun hätten usw. Dann begann die Messe mit einiger Verspätung. Zuerst ganz normal. Aber anstatt einer Predigt hatten die Jugendlichen etwas vorbereitet. Sie spielten ihre eigene Geschichte ab 1970, wie sie Mais anpflanzten, wie sie Tortillas klopften. Nach 1975 begannen die Konfrontationen des Militärs mit der Guerilla. Die Bauern wurden von beiden Seiten bedroht. Es gab Ermordungen, Entführungen … und schliesslich zerstörte das Erdbeben im Oktober 1986 auch noch viele Wohnungen. Die Bauern, die Armen wurden obdachlos. Sie besetzten ein Gelände. Aber der dueño wollte dort Wohnungen bauen, und deshalb mussten die lästigen Obdachlosen verschwinden. Die gaben aber nicht auf, sondern organisierten sich und hatten zum Teil Erfolg. Das alles spielten die Jugendlichen den Anwesenden vor. Im Anschluss an diese Improvisation hielt der Padre eine kurze Predigt. Er wollte nicht lange sprechen. Er wollte nur die Schlussfolgerungen aus der szenisch dargestellten Geschichte ziehen lassen. Und zwar sollten die Gläubigen diese Folgerungen ziehen. Er fragte: «Was ist der Pfingstgeist des Ganzen? Worin liegt die Kraft von Pfingsten?» Eine Frau antwortete, die Betroffenen hätten sich solidarisiert und sich verstanden wie damals die Apostel, und die Solidarität mache stark. Es antworteten noch mehr Leute in dieser Richtung. Dann wurde das Schuldbekenntnis gebetet und gleich anschliessend ein Kind getauft. Dann nahm die Messe wieder ihren normalen Lauf.
Nach der Messe wurde abgeräumt und abmontiert. Dann ging ich mit dem Padre, der mich am Ende der Messe den Anwesenden offiziell vorgestellt hatte. Das verpflichtet! Der Padre hatte es dann sehr eilig. Er führte mich in sein Haus. Wir sprachen kurz, d.h. er sprach und ich hörte zu. Manchmal stellte er eine Frage, die ich, sobald ich sie verstanden hatte, so gut es ging beantwortete. Dann verliessen wir, d.h. ich und noch zwei andere junge Leute (Laienhelfer? Sozialarbeiter?) sein Haus. Mit einer camioneta fuhren wir in eine andere Kirchgemeinde zu einem Padre, der Platz für mich hatte. Hier wohnte ich nun vorübergehend. Bald fuhr mich der Padre, bei dem ich nun vorübergehend wohnte und der Pedro hiess und Spanier war, ins Hotel Ritz Continental. Ich bestellte die Rechnung und packte meine Sachen zusammen. Padre Pedro schoss mir Colones vor, damit ich die Rechnung bezahlen konnte. Aus diesem Grund fuhren wir nochmals zu ihm nach Hause, wo er das Geld hatte. Dann fuhren wir ins Hotel, wo ich die Rechnung beglich und meine Sachen abholte. Ich beglich meine Rechnung bei Padre Pedor mit Dollar. Später wechselte er mir noch einen Dollarbetrag gegen Colones. Wie es schien, hat der Pfarrer oft unangemeldet Gäste. Die Gäste setzten sich so selbstverständlich an den Tisch und ebenso selbstverständlich schickte er jemanden Brot kaufen oder später pan dulce zum Kaffee. Auch später waren immer wieder andere Leute hier. Isabel, eine junge Sozialarbeiterin oder Pastoralassistentin, die aus dem gleichen spanischen Dorf kam wie Pfarrer Pedro, hatte ihr Zimmer auch im Pfarrhaus. Sie beide setzten sich für die Rechtlosen und Verfolgten ein – eine gelebte Solidarität mit hohem Risiko. Denn diese Art Solidarität wurde immer wieder auch von der offiziellen Katholischen Kirche gedrosselt oder gar verraten. Und was der Oligarchie El Savadors die Kirchenvertreter wert sind, hat sie bewiesen, als sie 1980 den Erzbischof Monseñor Oscar Arnulfo Romero während der Messe kaltblütig erschoss.
In einem ausführlichen Gespräch erläuterte mir der P. Pedro später, als wir allein waren, die Situation El Salvadors: ökonomisch, sozial, militärisch und politisch. Schade, dass ich bei weitem nicht alles verstand. Dies war mir sehr peinlich. Er versprach mir, mich am Montag auf einen Besuch in die Gemeinde von desplazados mitzunehmen.
Tres Ceibas – eine Kooperative von Vertriebenen
Am Montagmorgen fragte mich P. Pedro, ob ich Lust hätte, ein paar Tage mit desplazados zu verbringen. Ich bejahte. Um diesen neuen Aufenthalt zu ermöglichen, benötigte ich ein permiso, eine Bewilligung, von der Betreuungsstelle der Apostolischen Nuntiatur in San Salvador. Wir fuhren dorthin. Ich bemerkte, dass sowohl P. Pedro als auch Isabel allgemein bekannt und geschätzt waren. Mein permiso war dank der persönlichen Unterstützung der beiden gar kein Problem.
Anschliessend fuhren wir los. Ich hatte wenig Gepäck – nur das Allernötigste, darunter Schreibzeug und den Fotoapparat. Wir nahmen die Ausfallstrasse Richtung Apopa. Irgendwo verliessen wir die Hauptstrasse, befuhren eine Nebenstrasse und bogen dann auf einen Feldweg ab, wo wir nur mehr vereinzelt Häuser sehen konnten. Und schliesslich hielt P. Pedro den Wagen an. Weit und breit war keine Siedlung zu sehen. Dann nahm ich meinen Rucksack auf den Rücken, und wir stapften bei drückender Mittagshitze über eine trockene Wiese. Dann neigte sich der Weg und schlängelte sich in ein schattiges Tobel mit einem dünnen Flüsschen. Wir stiegen den gegenüberliegenden Hang hoch und bald öffnete sich der Wald und gab den Blick auf eine Siedlung von vielleicht einem Dutzend Häuschen frei. Das war die Siedlung Tres Ceibas.
Tres Ceibas war eine Kooperative, die mit Unterstützung der katholischen Kirche zustande gekommen war. Es handelte sich um desplazados, Vertriebene. Das waren Familien, die von ihren Dörfern geflohen bzw. vertrieben worden waren, also Flüchtlinge im eigenen Land. Die Kirche hatte ihnen Boden zur Verfügung gestellt unter der Bedingung, dass sie sich zu einer Kooperative vereinen, um die wichtigsten landwirtschaftlichen Hilfsmittel gemeinsam zu nutzen bzw. zu kaufen. In dieser Kooperative gab es viele Kinder und Frauen und nur sehr wenig Männer. Diese wenigen waren in fortgeschrittenem Alter. Die jüngeren Männer und älteren Söhne waren entweder von der Regierungsarmee oder den Todesschwadronen der extremen Rechten, der Arena eines D’Aubuisson, umgebracht worden, wurden vermisst oder sassen in einem der geheimen oder offiziellen Gefängnisse oder waren ins Ausland geflohen oder sie hatten sich, um sich zu wehren, der Frente Farabundo Marti de Liberación Nacional, FMLN, angeschlossen und damit den bewaffneten Kampf gegen die von den USA unterstützte Regierungsarmee, die Polizei und die Todesschwadronen aufgenommen. Hier in dieser Landwirtschaftskooperative von Flüchtlingen wohnte ich bei einer Familie mit zwei Kindern. Die Frau, eine etwa 35jährige Witwe mit insgesamt fünf Kindern, hatte aus ökonomischen und Sicherheitsgründen drei ihrer Kinder zur Adoption freigeben müssen, nachdem ihr Mann umgebracht worden war. {cf. Artikel «El Salvadors Bürgerkrieg und die Folgen. Das geraubte Mädchen». Von Toni Keppeler. In: WoZ Nr. 33, 07. August 2014, S.15–17.}

Nachdem mich P. Pedro einigen der Dorfbevölkerung vorgestellt hatte, brauchte ich nicht lange, um das Vertrauen der Kooperativmitglieder zu gewinnen. Ohne Zweifel war das nicht mein Verdienst sondern das Verdienst des Padre und der Kirche, die er vertrat. Denn von ihm waren sie nicht in Stich gelassen worden.
Sie rechneten damit, dass allein schon die Anwesenheit eines Ausländers terroristische Übergriffe der Armee und Polizei erschweren oder gar verunmöglichen würde. Denn wenn Ausländer anwesend waren, konnten die Staatsorgane nicht verfahren, wie sie wollten, ohne darüber von der ausländischen Presse, ausländischen Solidaritätsbewegungen und gewissen kirchlichen Kreisen angeklagt zu werden und möglicherweise weitere Implikationen in Kauf zu nehmen.
Einige Frauen erzählten mir einige Ereignisse, die sich seit der Existenz der Kooperative ereignet hatten. Eine Frau hatte, als sie etwas in der Hauptstadt San Salvador erledigen musste, die Gelegenheit genutzt, für eine andere Frau in der Kooperative Medikamente mitzubringen. Einige Tage darauf erschienen Soldaten in mehreren Fahrzeugen. Sie wollten wissen, wer Medikamente habe. Sie seien auf der Suche nach jenen Verrätern, welche die Terroristen (die Guerilla) mit Medikamenten unterstützten. Um dies herauszufinden, wurden sämtliche Kinder im Alter von 2 bis etwa 14 Jahren von den Erwachsenen getrennt und in eine grosse Garage geschlossen. Drinnen wurden die Kinder regelrecht von den Soldaten verhört. Natürlich sagte man ihnen, dass den Eltern nichts geschehe, wenn die Kinder frisch von der Leber weg erzählten, wo, bei wem, wann sie Medikamente, Honig usw. gesehen hätten. Die Kinder weinten. Die grösseren ahnten natürlich, worum es ging. Hatten aber unbeschreibliche Angst um ihre Eltern bzw. die Mütter. Auf jeden Fall gelang es den Soldaten auf diese Weise, jene Frau ausfindig zu machen, die für die andere Frau in San Salvador Medikamente besorgt hatte, und die Frau mit den Medikamenten selbst. Sie wurden zusammen mit einer über 80jährigen abtransportiert. Die Alte war zwei Tage später, sehr verstört und sichtlich erschöpft wieder in der Kooperative. Man hatte sie stundenlang verhört und zum Schluss gesagt, sie solle ausser Landes gehen. Ihr Leben sei nicht sicher. Dies war eine bekannte und ernst zu nehmende Drohung der Armee und der Todesschwadronen. Sie floh bis jetzt nicht. Wohin soll sie auch gehen? Aber alle haben Angst.
Ein Junge von etwa 12 Jahren erzählte mir, dass «die Soldaten» seinen Vater geholt hätten. Er wollte unbedingt, dass ich das Nötige veranlasste, um seinen Vater in irgendeinem staatlichen offiziellen oder geheimen Gefängnis ausfindig zu machen. Er nannte mir Namen, schilderte wie und wann das passiert sei usw. Aus Sicherheitsgründen hütete ich mich, Notizen zu machen. Das Äusserste, was ich riskierte, war, dass ich ein Foto des Jungen knipste. Aber auch dies ohne Namen. Ich wollte unbedingt verhindern, dass im Fall eines Falles der Armee oder Polizei kompromittierende Informationen wegen mir in die Hände fielen. Denn dies hätte für mich, vor allem aber für die betroffenen Familien der dezplazados ganz gefährliche Konsequenzen. Ich würde wohl in Verhören ausgepresst und dann ausgewiesen. Wie viel würde ich ertragen? Wie viel verraten? Die Betroffenen müssten aber mit Sicherheit mit Entführungen, Verhören und Folterungen oder Mord rechnen. Und nur schon die Angst davor wäre Terror.
Ich besuchte die Schule der Kooperative. Sie lag etwas abseits. Es war ein einfaches, kleines Haus. Vier Pfeiler in den Ecken des rechteckigen Grundrisses trugen ein leichtes Satteldach. Von Pfeiler zu Pfeiler verlief eine brusthohe Backsteinmauer, die von zwei Durchgängen (Eingängen) unterbrochen war. Möbel gab es keine, bis auf eine schwarze Wandtafel, auf welche die Lehrerin ab und zu mit Kreide Silben schrieb, und einem Tischchen, auf dem die Lehrerin ihr Material (Kreide, ein Buch, etwas Papier) deponierte. Die Kinder mussten die Silben lesen und laut sprechen. Die Lehrerin – sie kam aus der Hauptstadt – konnte nicht regelmässig Unterricht erteilen. Sie betreute alle: vom Kindergartenalter bis etwa 12-jährige. Aber einen Lehrplan gab es wohl kaum. Es ging ja nur darum, dass die Kinder lesen, schreiben und rechnen lernten.
Einmal schaute ich zu, wie eine Imkerin und ein Imker die Honigwaben ihrer Bienen ernteten. Sie erzählten mir, dass es gefährlich sei, Honigbienen zu haben. Die Armee und die Polizei werfe nämlich praktisch allen Bauern, die Honig produzierten, vor, sie würden den Honig für die Guerilla produzieren, damit diese sich davon ernähren könne. Richtig daran war, dass viele der anwesenden dezplazados infolge des Bürgerkriegs Hunger gelitten hatten. Um sich und vor allem die Babys und Kinder über Wasser zu halten, habe man sich von Honig und Zitronensaft ernährt. Mit diesen beiden Lebensmitteln und Wasser und etwas Salz könne der Körper relativ lange ohne Schaden zu nehmen überleben. Leider konnte ich den beiden nicht zur Hand gehen. Auch als ich mit einigen aufs Feld ging, wusste ich nicht, wie ich mich nützlich machen konnte. Sie pflügten mit einem Ochsengespann das Feld. Ich sah, dass das sehr mühsam war und vom Bauern viel Energie verlangte, um den Pflug richtig zu führen.
Nach wenigen Tagen hier in der Kooperative kamen mir Zweifel an der Nützlichkeit meiner Anwesenheit. Ich ass und trank von dem Wenigen, das die Leute hatten. Und was die Sicherheit betraf, welche sich die dezplazados von meiner Anwesenheit erhofften, konnte man das auch umgekehrt sehen. War ich nicht eher ein Risikofaktor für alle Familien der Kooperative? Ein gewichtiger Grund für diese Zweifel war, dass ich nicht gut genug Spanisch sprach. Ich verstand zwar ziemlich gut, was mir die Leute erzählten. Ich konnte darauf aber nur sehr rudimentär reagieren. Und wenn die Armee, Polizei oder Todesschwadronen hier aufgetaucht wären, wie hätte ich ihnen plausibel machen können, dass sie nicht einfach so verfahren konnten mit mir, wie sie vielleicht wollten? Angesichts meiner Hilflosigkeit und den Zweifeln an meiner Nützlichkeit, gepaart mit der Angst vor den ernsthaften Konsequenzen für alle Beteiligten, wenn mich die Polizei in dieser Kooperative aufgriffe, entschied ich, bei der nächsten Gelegenheit wieder in die Hauptstadt zurückzukehren.
Calle Real : ein Flüchtlingslager
Als der Padre nach drei Tagen wieder erschien, um sich nach dem Befinden der Familien zu erkundigen, teilte ich ihm meine Bedenken und meinen Entschluss mit. Er verstand mich sofort und nahm mich wieder mit in sein Haus in der Hauptstadt. Er nahm mich wieder mit in die Betreuungsstelle der Apostolischen Nuntiatur. Es ging hauptsächlich um Flüchtlinge, die hier anklopften und um Hilfe baten. Und es war klar, dass das Büro praktisch nur helfen konnte, wenn sie – wie im Fall der Cooperativa Tres Ceibas – Gruppen bildete, denen sie helfen konnte. So hatte diese Betreuungsstelle auch ein Flüchtlingslager gegründet, das unter seiner Führung vielen mindestens vorübergehend Beistand leisten konnte. Natürlich war dieses Flüchtlingslager der Armee und Polizei ein Dorn in den Augen. Immer wieder wurden Lagerinsassen beschuldigt, Terroristen zu sein oder vom Lager aus die Guerilla zu unterstützen. Die Kirche setzte sich aber immer wieder mehr oder weniger erfolgreich für den Schutz der Flüchtlinge ein. Hier bekam ich schnell wieder ein permisso.
Am nächsten Tag brachte er mich in ein von der katholischen Kirche geführtes Flüchtlingslager. Hier lebten viel mehr Leute relativ eng zusammen als in der Cooperativa Tres Ceibas. Es gab eine Gemeinschaftsküche, ein Lazarett, eine Nähwerkstatt, zwei Schulzimmer, eine Werkstatt für Holzarbeiten, wo die Lagerinsassen Kaninchenställe gezimmert hatten, um einen Beitrag zur Selbstversorgung zu leisten. Dem gleichen Ziel dienten kleine Anpflanzungen von Erdnüssen, Mais und weiteren Kulturpflanzen. Die Fläche für diese Pflanzungen war aber sehr bescheiden. Sie reichte natürlich bei weitem nicht für die Selbstversorgung.
Zum Frühstück gab es immer eine gute Handvoll ungeschälter Erdnüsse und Kaffee oder Tee. Ich vermisste das Brot zum Frühstück.
Hier gab es auffällig viele Kriegsversehrte mit amputierten Beinen, Armen oder Händen. Die meisten von ihnen waren Opfer von Personenminen, die ihnen eine Extremität weggerissen hatte.
In diesem Lager gab es noch zwei oder drei andere Internacionalistas – zwei waren Briten. Bei einer Plauderei an einem Samstag stellten wir plötzlich anhand unserer Reisepässe fest, dass meine Aufenthaltsbewilligung als Tourist gerade noch einen Tag gültig war. Morgen Sonntag lief meine ab. Ich hatte dem Stempel in meinem Pass keine grosse Bedeutung beigemessen. Denn als Schweizer konnte ich ohne Visum nach El Salvador einreisen. Und deswegen hatte ich eigentlich damit gerechnet, dass ich ohne Verlängerung drei Monate im Land bleiben konnte. In Wirklichkeit hatte mir aber die Kontrollbehörde am Flughafen gerade 10 Tage zugestanden. Ich musste also am Montag eine Verlängerung beantragen.
Bei der Einwanderungsbehörde
Am Montagmorgen, 15. Juni 1987, fuhr ich mit einem Bus in die Hauptstadt. Ich fragte mich durch, um zum richtigen Gebäude zu kommen. Dann meldete ich mich bei der für Touristenvisen verantwortlichen Behörde am Schalter. Ich musste zuerst ein Formular ausfüllen. Ausser meinen Personalien war auch die Adresse meines aktuellen Aufenthalts in El Salvador gefragt. Ich gab das Hotel Ritz Continental an, in dem ich die ersten Tage gewohnt hatte. Dann musste ich warten. Wurden meine Angaben jetzt überprüft? Bange Minuten vergingen. Dann wurde ich aufgefordert, mit einem athletischen Beamten in ein Büro zu gehen. Dort warteten etwa vier bis fünf Uniformierte an Schreibtischen oder stehend mit einer Zigarette im Mund. Auf den Schreibtischen standen Telefonapparate. Ich wurde aufgefordert, mich gegenüber einem Schreibtisch zu setzen. Der Beamte an diesem Schreibtisch spannte ein Blatt Papier in seine Schreibmaschine. Dann stellte er Fragen und tippte die Antworten auf das Blatt. Wann greift er zum Telefon, um dem Hotel Ritz anzurufen und zu fragen, ob ich dort logiere? Mir war sehr heiss. Einige Fragen von vorher wiederholten sich. Der Beamte wollte aber auch den Zweck meines Aufenthalts in El Salvador wissen. Ich erklärte, dass ich hier sei, um Spanisch zu lernen, und dass ich nachher noch Guatemala kennen lernen möchte. Er blätterte in meinem Pass. Schliesslich sagte er: «Un momento, por favor! », erhob sich mit meinem Pass in den Händen und ging an einen anderen Schreibtisch. Dort drückte er einen Stempel in meinen Pass, kam zurück und schrieb noch etwas hinein. Dann überreichte er mir den Pass. Ich musste eine Gebühr bezahlen, dann verabschiedete er mich. Erst als ich das Gebäude verlassen hatte, wagte ich einen Blick in den Pass. Der Beamte hatte mir eine Verlängerung von zwei Wochen eingetragen. Ich konnte also bis am 29. Juni 1987 in El Salvador bleiben. Ich kehrte ins Flüchtlingslager zurück.
Hilfstransport nach San José las Flores
Für Samstag, den 20. Juni, war ein Hilfskonvoi von der Hauptstadt nach San José Las Flores geplant. Anlass war das Ein-Jahr-Jubiläum von San José Las Flores, einer repoblación, einer Rücksiedlung, im Kriegsgebiet. Die Leute von dieser so genannten Rücksiedlung hatten sich vor einem Jahr entschlossen, sich trotz gewaltiger Schwierigkeiten dort, wo sie von den Kriegsparteien verdrängt worden waren, wieder anzusiedeln, und zwar ohne sich von der Regierungsarmee als Modelldorf oder so etwas instrumentalisieren zu lassen. Sie beharrten auf ihrem Anspruch, als Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf Niederlassungsfreiheit und auf physische und psychische Sicherheit zu haben. Ihr einjähriges Überleben war keineswegs selbstverständlich. Es war ein Überlebenskampf, der geprägt war von allerhand Repressionen seitens der Armee, welche die Zugangsstrasse kontrollierte und diese Kontrolle schamhaft ausnutzte, um Lebensmittel, Medikamente, Baumaterialien usw. mit dem Ziel zurückzuhalten, die Leute einzuschüchtern, zu demoralisieren und schliesslich dazu zu bringen, ihre repoblación rückgängig zu machen.
Am Samstag reiste ich zusammen mit meinen britischen Kollegen in die Hauptstadt. Ich wollte an diesem Hilfskonvoi teilnehmen. Denn das war eines meiner Hauptziele in El Salvador. Wir trafen frühzeitig am Besammlungsort an. Hier standen bereits drei Busse, teilweise mit Transparenten versehen. Viele Leute warteten; einige von ihnen waren einheimische Passagiere mit Angehörigen in San José Las Flores, andere waren wie ich Internacionalistas, die am Konvoi teilnahmen, andere waren hier, um zu helfen und viele waren einfach Zuschauer – darunter vermutlich auch zivile Beobachter der Sicherheitskräfte. Die Busse trugen vorn grosse weisse Friedensflaggen. Es sollte allen von weitem klar sein, worum es bei diesem Konvoi geht. Schliesslich handelte es sich um einen bewilligten Transport. Gegen 9 Uhr setzte sich der Konvoi in Bewegung. In der Hauptstadt winkten uns viele Leute zu. Es war sehr heiss. Dann fuhren wir auf einer Überlandstrasse bis zu einer Armeesperre. Der Konvoi musste anhalten. Nach etwa 15 Minuten konnte der Konvoi weiterfahren. Bald schon gelangten wir zum nächsten der zahlreichen Kontrollpunkte der Armee. Hier gab es offenbar Komplikationen. Der Transport wurde länger aufgehalten. Alle stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten, Kinder mussten auf die Toilette. Am späteren Nachmittag gelangten wir nach Chalatenango, Hauptstadt der Provinz, in der San José Las Flores lag. Der Konvoi wurde vor dem Militärkommando angehalten. Es gab Probleme. Die Bewilligung für den Transport sei nicht nach Chalatenango übermittelt worden, und ohne Bestätigung unserer Bewilligung sei das, was unsere Vertreter vorzuweisen hätten trotz Stempeln und Unterschriften nicht mehr als Makulatur. Dann kamen Soldaten mit Fotoapparaten. Sie wollten in die Busse, um Fotos zu machen. Die einheimischen Passagiere hatten panische Angst fotografiert zu werden, weil das für sie oder ihre Angehörigen in San José Las Flores nur ernsthafte, negative Konsequenzen haben konnte. Den Soldaten wurde das Betreten der Busse verwehrt. Sie hatten ihr Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten, trotzdem erreicht. Kein Salvadorianer stieg aus. Alle blieben mit schreienden Kindern im Bus sitzen. Die Kinder hatten Durst. Es herrschte eine unbeschreibliche Hitze in den Bussen. Draussen kreisten die Soldaten mit ihren Fotoapparaten. Nach etwa einer Stunde zäher Verhandlungen der Verantwortlichen und einiger prominenter Internacionalistas (besonders aus den USA und Grossbritannien und Deutschland) hiess es, die Internacionalistas dürften weiterreisen, aber ohne die Einheimischen, die keinen permiso besässen und ohne die Hilfsgüter. Darauf wollten wir uns nicht einlassen. Es wurde beschlossen, den Rückweg anzutreten und morgen, Sonntag, an einer Demonstration des Dachverbandes der Gewerkschaften UNTS, der Universitätsgemeinde El Salvadors und dem Christlichen Komitee für Vertriebene CRIPTES, einer Selbsthilfeorganisation der Vertriebenen, teilzunehmen, um der Presse bekannt zu machen, mit welchen Repressionen die Regierungsarmee ihre Interessen durchsetzt, wie die Bürgerrechte mit Füssen getreten werden und wie auch die Regierungsstellen diese Rechtsverletzungen, die Repression usw. duldeten und nichts dagegen unternahmen.
Die Rückfahrt ging auch an den Kontrollstellen der Armee erstaunlich schnell vonstatten. Die Stimmung unter den Passagieren war sehr bedrückt. Wir fuhren zum Lokal des Christlichen Komitees für Vertriebene in El Salvador, CRIPDES, wo wir den Lastwagen abluden. Diese Hilfsgüter verstauten wir im Lokal des Komitees. Hier übernachteten auch fast alle Passagiere, die am Transport nach San José Las Flores teilgenommen hatten. Es waren viele Frauen mit Kindern (auch Säuglingen) und einige, meist ältere Männer.
Die Presse berichtete über den Hilfskonvoi (auf Spanisch) und über die Forderungen der UNTS (auf Spanisch).
Kundgebungen der Massenbewegungen
Die Demonstration am Sonntag verlief, soweit ich das feststellen konnte, friedlich und in geordneten Bahnen. Vor einer Woche schoss die Polizei bei einer vergleichbaren Kundgebung auf Demonstranten; dabei gab es Verletzte. Die Presse war auch heute anwesend. Gewerkschaftsführer der Nationalen Einheit der salvadorianischen Arbeiter, des Dachverbandes der Gewerkschaften, erklärten der Öffentlichkeit die Gründe ihrer Demonstration. Sie forderten:
Die UNTS wurde unterstützt durch die Universitätsgemeinde El Salvador (UES), deren Vertreter forderten:
Die beteiligten Organisationen erinnerten die Verantwortlichen in einem Dokument daran, dass für die ausgeweitete Krise die Regierung Duarte, die Armee und die USA verantwortlich sind, welche die Krisen- und die Kriegskosten auf die breiten Bevölkerungsschichten abwälzen. Folge davon sei die hohe Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit (70%) und die galoppierende Inflation. Gewerkschaftsführer der UNTS verurteilten die Übergriffe von Sicherheitsbeamten vor der US-Botschaft, die CRIPDES-AktivistInnen bedrohten und belästigten.
Mitglieder vom Christlichen Komitee für Vertriebene von El Salvador, CRIPDES, forderten freien Zugang zur repoblación San José Las Flores und verurteilten die gestrige Verhinderung des Transports durch die Armee als eklatante Verletzung der Bürgerrechte und als Zeichen dafür, dass die Regierung zu einer politischen Konfliktlösung gar nicht Hand bieten will sondern sich der Armeeführung unterstellt. Diese Forderungen wurden ausserdem unterstützt von weiteren Organisationen von Massenbewegungen, darunter von den Müttern und Angehörigen von Verschwundenen oder Ermordeten.
Ich knipste einige Bilder und marschierte mit den Manifestanten mit. Dann ging ich mit einigen anderen ins CRIPDES-Lokal und später wieder zu Padre Pedro, bei dem ich wieder wohnte.
Die lokale Presse berichtete über die Kundgebung: «UNTS concéntrase y reitera acusaciones contra el Gobierno»
Zwischenfall
Tags darauf besuchte ich das erzbischöfliche Rechtshilfebüro Tutela Legal, wo ich kurz mit einer Leiterin sprechen konnte. Ich sagte, dass ich Mitglied von Amnesty International, Sektion Schweiz, sei, mich aber privat in El Salvador aufhalte. Dennoch wolle ich die Gelegenheit nutzen, dieses Büro zu besuchen, das mir von CASA-Briefen her ein Begriff sei. Ausserdem könne ich vielleicht irgendwie nützlich sein. Die Leiterin gab mir zwei riesige Stapel Papiere. Beim Durchsehen stellte ich fest, dass es sich um Fallbeschreibungen von Vermissten, Verschwundenen, Entführten und Ermordeten handelte, also um Menschenrechtsverletzungen. Beladen mit diesen Papieren, die ich in meiner Stofftasche verstaute, verliess ich das Büro. Ich nahm einen Bus und fuhr eine oder zwei Stationen. Dann verliess ich den Bus und wollte mich mit dem Stadtplan in der Hand orientieren, als auch schon zwei Polizisten neben mir standen. Sie verlangten meinen Ausweis. Ich gab dem einen meinen Reisepass. Der andere wollte von mir wissen, wie ich heisse, woher ich käme, was ich in El Savador mache, wo ich wohne usw. Der Polizist mit dem Pass verifizierte vermutlich meine mündlichen Angaben mit den Angaben in meinem Pass. Danach gab er den Pass seinem Kollegen. Nun stellte mir der andere Polizist Fragen, im Allgemeinen dieselben, die sein Kollege vorher schon gestellt hatte. Offenbar war das ihre Methode der Personalkontrolle. Dann fragte er, was ich in meiner Tasche hätte. Mir wurde heiss. Ich kramte meine Kamera aus und zeigte sie dem Polizisten. Zum Glück war sie ziemlich gross. Dann legte ich die Kamera zurück und holte ein Souvenir aus der Tasche, das ich auf dem Weg zu Tutela Legal gekauft hatte, und schwärmte von El Savador. Ich legte es zurück in meine Tasche und fragte, wie ich am besten zum Museum komme. Die beiden Polizisten beschrieben mir den Weg und dann bekam ich meinen Pass wieder zurück. Ich bedankte mich für die Auskunft und entfernte mich. Das war glimpflich abgelaufen.
Dieser Zwischenfall bestärkte mich aber, meine Abreise unverzüglich in Angriff zu nehmen und nicht mehr zu warten, bis mich und viele andere Personen ein dummer Zufall in grössere Schwierigkeiten bringen konnte.
Am Dienstag, dem 23. Juni, flog ich morgens von San Salvador nach Guatemala Ciudad. Hier war ich nun vollends Tourist. Ich musste mich von den psychischen Strapazen erholen, die ich während rund drei Wochen in El Salvador erlebt hatte. Wie machen es die Leute, die nicht einfach abhauen können, um diesen Stress tagtäglich aushalten zu können?
Jürg Weis, Theologe, starb ein Jahr später auf seiner Informationsreise in El Salvador.
Öffentlichkeitsarbeit
Wieder zurück in der Schweiz bemühte ich mich, darüber zu berichten, was ich in Zentralamerika gesehen und miterlebt hatte. In einem Brief bot ich dem Chefredaktor der Freiburger Nachrichten im September einen Artikel über die Vertriebenen in El Salvador an. Bis kurz vor Weihnachten war mein Artikel weder erschienen, noch hatte ich eine Absage erhalten. Deshalb schrieb ich erneut einen Brief an den Chefredaktor der Freiburger Nachrichten. Die Freiburger Nachrichten publizierten diesen Artikel meines Wissens nie.
Hingegen veröffentlichte ich in der Zeitlupe 8/1988 (offizielles Organ der SP Freiburg) einen Artikel zur Repression in El Salvador. Der gleiche Artikel war vorher schon im offiziellen SP-Organ der Kantonalsektion Graubünden erschienen.
Politisch-militärische Situation der «Repoblaciones» und «Desplazados» in der Zeit meines Aufenthalts in El Salvador, rückblickend beschrieben von Patricia Bleeker-Massard 1995 (auf Französisch).