Im Rahmen des Nachdiplomstudiums an der ETH Zürich, das ich 1987 begonnen hatte, war ein mindestens sechsmonatiges Praktikum 1988/89 in Kolumbien vorgesehen. Doch weil die Sicherheitssituation prekär wurde, beschloss der Bund, kein neues Personal mehr in die Zone, in der mein Praktikum geplant war, zu senden. Deshalb musste ich mich umorganisieren.

Ich bekam die Wahl zwischen Nicaragua und Kuba. Weil ich einige Jahre zuvor bereits in Nicaragua war, wählte ich das für mich noch unbekannte Kuba.
Teilnehmer eines internationalen Kurses an der Uni von Havanna
Meinen ersten Teil des Praktikums sollte ich als Student an der Uni in Havanna leisten, damit ich mich mit den lokalen Bedingungen und der Sprache vertraut machen konnte. Weil ich im Sommer 1989 drei Monate im Sommersprachkurs unterrichtete und dieser erst in der ersten Oktoberhälfte zu Ende ging, konnte ich aber nicht auf Semesterbeginn in Havanna sein. Mit den kubanischen Partnern und mit der ETH Zürich, von der das Nachdiplomstudium für Entwicklungszusammenarbeit, NADEL, durchgeführt wurde, konnte ich vereinbaren, dass ich trotz der 2‑wöchigen Verspätung noch am geplanten Kurs teilnehmen konnte.
Am 14. Oktober 1989 flog ich von Zürich in einer Tupolev TU-154 nach Prag. Nach mehrstündigem Aufenthalt in der Transitzone des Flughafens in Prag ging es mit einer Ilyushin IL-62 über den Atlantik nach Montreal. Ich hatte Fensterplatz. Schon als ich die Lichter sah, dachte ich, wir seien in Havanna. Ich wusste nicht, dass wir in Montreal eine technisch bedingte Zwischenlandung machen mussten.
Ankunft
15. 10. 1989 – Nach einer programmgemässen Reise am 15. Oktober 1989 kam ich in der Nacht auf Sonntag auf dem Aeropuerto Internacional José Martí (HAV) in Havanna an, wo ich wie alle andern Reisenden eine gute Stunde auf mein Gepäck wartete.

Glücklicherweise wurde ich von Dra Beatriz Diaz mit dem universitären Kleinbus am Flughafen abgeholt. Auch sie hatte von Mitternacht bis nach 1 Uhr auf mich gewartet. Und wie mir später Kommilitonen erzählten, hatte lange nicht jeder das Privileg, am Flughafen abgeholt zu werden.
Weil der Studentencampus in Machurrucutu überlastet war, wurde unser Curso Internacional de Postgrado: Desarrollo y Relaciones Internacionales an der Uni im Zentrum von La Habana abgehalten. Mir wurde ein Zimmer im Hotel Nacional de Cuba zugewiesen. Hier wohnten noch mehr von unserem Kurs. Einige Ausländerinnen und Ausländer wohnten aber doch in besagtem Studentencampus in Machurrucutu. Diese gehörten allerdings nicht zu unserem Kurs der Flacso (Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales). Nachdem ich mich an der Reception des Hotels eingeschrieben hatte, gab mir Dra Diaz nebst dem Stundenplan des Kurses, der ja schon vor zwei Wochen begonnen hatte, noch die Namenliste all jener Kursteilnehmenden, die auch im Nacional wohnten. Beim Verabschieden fragte sie mich, ob ich am Sonntag auch mit den andern an den Strand fahren möchte. Ich bejahte.
Vor dem Frühstück sah ich mich im Hotel ein bisschen um. Das Hotel Nacional de Cuba liegt direkt am Malecón, also direkt an der geschwungenen Uferpromenade entlang der Meeresbucht. Es gibt auch hoteleigene Swimmingpools, verschiedene Bars, ein Cabaret, einen Coiffeursalon, eine Arztpraxis, einen Massagesalon, Sauna, Gymnastikraum, eine Poststelle mit Telegramm-Dienst etc.
Zum Frühstück begrüsst den Gast ein tropisches Frühstücksbuffet. Fantastisch. Ich setzte mich allein an einen Tisch. Nach einiger Zeit setzten sich zwei Damen in meine Nähe, über die ich spekulierte, dass sie möglicherweise Kursteilnehmerinnen seien. Als sich weitere dazugesellten, erhärtete sich mein Verdacht, worauf ich fragte und sich meine Vermutung als richtig erwies. Es war Zeit, sich für den Ausflug an den Strand vorzubereiten. Ich verpackte sicherheitshalber noch einige Wertgegenstände, brachte meine Barschaft in einen Safe an der Hotelreception, dann ging unsere Fahrt an die playa los.
Und so holte ich mir den ersten Sonnenbrand am ersten Tag meines Lebens in Cuba. Der Strand ist überwältigend. Unsere Gruppe bester Stimmung.
6.10.1989 — Irgendwann erinnerte mich La Habana an Wien. In vielen Dingen ist die Zeit stehen geblieben. Es ist, wie’s war. Die koloniale Architektur einer ehemaligen Metropole, die Oldtimer auf den Strassen: alles wie im Museum, nur nicht so geschleckt sauber, sondern abbröckelnd, geflickt, laut und stinkend. Und fast alles Museale wird dringend gebraucht. Das Neue kann man sich offensichtlich nicht leisten.
Zwar war ich bei meiner Ankunft nicht geschockt, ich hatte Schlimmeres erwartet. In meinem Gepäck jedenfalls fand ich eine ganze Reihe von Dingen, die ich nicht hätte mitnehmen müssen. Ich könnte viele Dinge auch hier gegen harte Devisen kaufen.
Aber ich spürte doch einiges, das mir fremd war in einer Art, die ich in Zentralamerika nicht angetroffen hatte. So zum Beispiel sind mir bis jetzt noch keine Bettler aufgefallen, etwas das in El Salvador, Honduras, Guatemala zum Strassenbild gehört. Auch in Nicaragua war das Bild 1985 ähnlich, aber bereits zwei Jahre später wurden die Bettler, die Arbeitslosen und die Kinder mittelloser Familien im Strassenbild wieder bemerkbar. Fremd ist mir auch eine gewisse Orthodoxie oder Sturheit im Gespräch mit den Cubanas und Cubanos, aber langsam gewinne ich ein anderes Bild: Die leben wirklich ihre politischen Überzeugungen, gestehen sich Schwächen und Irrtümer ein — lassen sich aber vom eingeschlagenen Weg nicht mehr abbringen — zumindest nicht die ältere Generation. Bis jetzt hatte ich keinen Kontakt mit Cubanos unter 30.
Es dauerte seine Zeit, bis einem Schweizer auffällt, dass die Strassen im Vedado und in Miramar eigentlich fast so sauber sind wie bei uns zu Hause.
Auch in Alt-Havanna sind die Strassen so sauber, man möchte meinen, dass jeden Morgen der Reinigungswagen wie in der Zürcher Bahnhofstrasse die Strasse fegt. Aber hier ist es Handarbeit.
06.12.1989 — Kein besonderer Tag
Jetzt, wo ich das Datum geschrieben habe, erinnere ich mich daran, dass in der Schweiz heute St. Nikolaus in die Häuser kommt — eine sehr seltsame Erinnerung bei dem tropischen Wetter, das in den letzten Tagen zwar auch nicht gerade heiss war, aber seit der Sturm sich gelegt hatte, doch wieder angenehm ist.
Und natürlich dachte ich heute wiederholt an den Geburtstag meines Engels. Wie dumm, dass ich im Brief, den ich letzte Woche abschickte und der vermutlich just zum Geburtstag in Baden eintraf, mit keinem Wort den Geburtstag erwähnte. Ich dachte, das sei noch viel zu früh.
Ineffizient
Heute sass ich pünktlich um 14.00 Uhr im DES. Alle Professorinnen waren dort, und wie mir schien, haben sie es eilig, die trabajos finales zu lesen und zu beurteilen. Obwohl der Kurs eigentlich noch gute zwei Wochen dauern sollte. Aber sie haben die Kursdauer kurzerhand einfach um eine Woche gekürzt — um zu ein paar Tagen Urlaub zu kommen, wie ich vermute.
Also alle waren dort. Ich frage nach Post für mich, und keine zehn Minuten später legte ein Mann ein Bündel Post auf den Tisch: darunter meine WoZ (vom 17. November) und ein Brief vom NADEL (Poststempel vom 21.11.89). So setzte ich mich also, um die WoZ zu lesen. Beatriz hielt ihre Mittagsrast, d.h. sie verzehrte im inneren Büro ihren Lunch. Um 14.30 Uhr trudelten Aparecida und dann auch Maria ein. Marina hatte die gute Idee, eine Video-Aufnahme mit einer Debatte zwischen den brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Lula und Collor für Aparecida abzuspielen. Eine elegante Lösung, den Leuten das Warten vergessen zu machen. Gegen 15 Uhr setzte sich dann auch Beatriz vor den Kasten. Aber als ich sah, dass sie keine Anstalten traf, die Besprechung zu beginnen, intervenierte ich. Ich fragte, wie das Programm des Nachmittags aussehe. Aparecida verstand schneller als Beatriz, dass ich nicht gekommen war, um Lula zu sehen. Man brach also die Video-Vorstellung ab. Zuerst wurde in 15 Minuten die Arbeit von Aparecida behandelt, wobei es vor allen Dingen um eine Krankheit (Herzerweiterung) ging, deren Errger (vermutlich ein Virus) durch ein skorpionartiges Tier auf Menschen übertragen werden kann, aber dann auch durch Bluttransfusionen. Danach wurde Marias Arbeit besprochen, d.h. Beatriz hat nur den handschriftlich geschriebenen Teil gelesen. Hier ging’s um sprachliche Kleinigkeiten (modismos), auch um Terminilogiedifferenzen. So etwa um 16.30 Uhr kam ich an die Reihe. Beatriz las die introducción und den Anfang des 2. Teils: La Realidad. Dann schlug sie vor, das Ganze zu Hause zu lesen. Ich war damit einverstanden, womit ich also wenigstens 2 Stunden für die Katz hier verbracht hatte — es sei denn, man rechne andere positive Effekte dieser 2 Stunden als “Leistung” an, nämlich: die sofortige Aushändigung der Post und die Information von Anamaria, dass ich wegen der residencia aufs Büro der Relaciones Internacionales gehen müsse.
So machte ich es dann auch, ohne zu wissen, was die genau wollten. Ich fand das Büro sofort. Dort fragte mich die Verantwortliche, was ich wünsche. Ich erklärte ihr, dass es sich um mein carnet estudiantil handle, ich aber auch nicht genau wisse, warum ich hierher zitiert worden sei. Die Gute meinte, dass der verantwortliche compañero im Moment gerade nicht hier sei, sie schaute aber in einigen Dossiers nach, fand meines und fragte mich, ob ich meinen Pass schon abgegeben hätte. Das hatte ich — schon mehrmals — aber im DES, die den Pass hätten hierher bringen müssen. Also: Ich solle mit meinem Pass wieder kommen, meinte die Frau. Das konnte ich noch vor Büroschluss erledigen. Als ich gegen 17 Uhr nochmals aufkreuzte, war das Büro belagert von compañeras y compañeros, die plötzlich alle anwesend waren, wie mir schien. Ich solle am Samstag wieder kommen, den ganzen Tag sei jemand dort, meinte die compañera. Mal schauen. Ich rechnete damit, dass ich am Samstag noch nicht im Besitz des Studentenausweises sein werde.
Persönliches Schicksal
Als ich um 16 Uhr nach Hause ging, traf ich bei der libreria an der Ecke Reinhard, den Studenten aus der DDR, der in Havanna seine Doktorarbeit schrieb. Er unterhielt sich mit einer weiteren Studentin aus der DDR. Sie studiert Lateinamerika. Das ist in der DDR eine Universitätsausbildung. Sie umfasst alles: von Soziologie, Ökonomie, Spanisch, Portugiesisch bis zu Geografie, Kultur, Literatur usw.; aber alles ziemlich oberflächlich. Sie heisst Peggy. Aber “beeindruckt” hat mich eigentlich etwas Anderes, nämlich Reinhards Lage. Er ist völlig frustriert. Ist ja auch klar. Denn er rechnete damit — ich erinnerte mich noch gut an unseren ersten Ausflug an den Strand von Varadero, als er mir ziemlich begeistert von seinen Zukunftsaussichten erzählte — er rechnete also damit, eine Stelle in Berlin zu bekommen, zu heiraten und Sozialismus zu dozieren. Dann als in Cuba die ersten Reiseerleichterungen der DDR bekannt wurden, teilte er mir dies freudig mit. Wir planten bereits seinen Besuch in Zürich und Freiburg. Aber heute sah er mutlos aus. Der Lauf der Dinge [Fall der Berliner Mauer] hat ihm das Wasser abgegraben und es ist unsicher, ob seine Doktorarbeit überhaupt noch von Interesse sein wird, von Interesse kaum, er hat Glück, wenn sie als Fleissarbeit anerkannt und sozusagen pflichtgemäss auch als Promotionsarbeit akzeptiert wird. Wer hat bei solchen Aussichten noch Lust weiterzuarbeiten?! Armer Reinhard! Es sieht schlecht aus. Ich meinte, er könne doch ein paar Jahre in Cuba bleiben, hier könnten sie Lehrer wie ihn gut gebrauchen. Er lachte zwar über meinen Witz, aber klar, es war eben nur eine Verlegenheitsreaktion meinerseits. Was soll man ihm denn schon raten? Ich kenne seine Doktorarbeit nicht und erfasse auch nicht den Umfang der Umwälzungen in der DDR auf dem Hintergrund der Ideologie. Was hat sich ideologisch geändert? Ich kann das nicht abschätzen. Inwiefern ist die Perestroika und Glasnost eine sozialistische Offensive gegen den Kapitalismus? Oder umgekehrt: Inwiefern hat der Kapitalismus den Sozialismus schon so weit gebracht, dass er sich öffnen muss, um zu überleben?
Von Oktober bis Dezember besuchte ich einen Kurs über Desarollo y Relationes Internacionales. Dieser Kurs nahm mich sehr in Anspruch, sodass wenig Zeit übrig blieb, mein Gastland näher anzuschauen. Nebst den obligatorisch zu besuchenden Vorlesungen hatte jeder noch eine Semesterarbeit zu schreiben, was mich natürlich verdammt viel Schweiss, Zeit, ron und andere Geister kostete. Ich habe mich in dieser Arbeit mit dem Ideal und der Realität der Schweizer Demokratie befasst. Grundlage war in erster Linie Tschänis «Wer regiert die Schweiz?» und «Wem gehört die Schweiz?». Aber eben, Tschäni schreibt auf Deutsch, ich hatte auf Spanisch zu schreiben. Übers Ganze gesehen erwies sich der ganze Kurs als kostspieliger Umweg, den ich nicht mehr gehen würde. Damit man von besagtem Kurs profitieren kann, muss man zwei Voraussetzungen erfüllen: Man muss zum einen gut Spanisch sprechen und verstehen, d.h. fähig sein, z.B. über Mittag einen 20seitigen Essay auf Spanisch zu lesen und nachher darüber zu sprechen, an Fachdiskussionen (nicht Konversation) aktiv teilzunehmen, und zum anderen muss man mit dem marxistisch-leninistischen Gedankengut schon einigermassen vertraut sein. Beide Voraussetzungen erfüllte ich nur unvollständig. Ausserdem ist Kubanisch nicht dasselbe wie Spanisch.

In diesem Kurs gab man uns auch die Möglichkeit, per Exkursionen die Errungenschaften der Revolution aus nächster Nähe kennen zu lernen. So besuchten wir Cooperativen, eine Zuchtanstalt für Rindvieh mit Samenbank, eine Escuela Secundaria auf dem Land, wo geistige und manuelle Arbeit Hand in Hand gehen, eine psychiatrische Klinik, eine Central Azucarera in Pinar del Rio, wir besuchten das nationale Büro der Poder Popular, die Bodeguita del Medio, eine Kneipe zum Essen in Althavanna und noch einiges dazu. Aber nach und nach stellten wir fest, dass wir fast ausnahmslos Vorzeigeprojekte vorgezeigt bekamen. Denn die meisten dieser Ausflüge lassen sich bei CUBATOUR, einem staatlichen Tourismusunternehmen, für einige Dollars buchen. Diese Entdeckung weckte bei einigen von uns Misstrauen, auch dass die kubanischen Professorinnen nicht wahrhaben wollten, dass AusländerInnen die Handtasche mit Gewalt gestohlen wurde. Letzte Woche wurde bei uns am helllichten Tag ein Velo aus dem Haus gestohlen. Solchen Problemen gehen viele Cubanos nicht wirklich auf den Grund. Entweder verschliessen sie einfach die Augen, weil es ihrer Meinung nach nicht gibt, was es nicht geben darf, oder sie erklären solche Vorkommnisse als absolute Ausnahmen, die weiter nicht ernst zu nehmen seien, sozusagen als Zufälle. Dass solche Diebstähle sehr wohl auch etwas zu tun haben könnten mit den Warteschlangen, den beschränkten Freiräumen, den Touristen und den Dollarshops, wird zu wenig diskutiert. Dabei ist der Hunger nach Konsum doch eigentlich sehr verständlich. Dem müsste man erzieherisch begegnen. Aber das ist freilich leichter gesagt als getan.
Erster Abschied
Samstag, 16. Dezember 1989 — Heute Morgen fanden die letzten defensas del trabajo final statt, und zwar von Alfredo (Management), Martin (Demokratie der Schweiz), Carlos (informeller Sektor in Nicaragua) und Bolivar (Entwicklung von Stadt und Land in Nicaragua). Natürlich war ich ziemlich nervös. Ich musste vieles ablesen. Die Transparente waren mir aber eine grosse Hilfe, um frei zu sprechen. Es ging ziemlich gut. El tribunal befand finalmente: aprobado.
Sonntag, 17. Dezember 1989 — Gestern Abend verabschiedeten wir uns in der guagua von Aparecida (Brasilien). Sie versprach mir, in Vitoria anzurufen. Dann begaben wir uns ans so genannte Abschiedsfest. Guiselle hatte mich schon vorher im Zimmer aufgesucht, um erstens mich sozusagen für die Tänze zu reservieren und zweitens um Dollars zu kaufen. Ihr Angebot lautete 1:1, was mir überhaupt nicht gefiel. Schon früher hatte ich ihr gesagt, ich tausche 2:1, aber nur wenn es unbedingt nötig sei.
Das Fest gefiel mir gut, eigentlich sogar besser als das Mittelfest. Mercedes war etwas dominant, als es darum ging, unseren Musikanten zuzuhören. Sie hörte Björn (Norwegen) und Fidel zu. Nachher wollte sie wieder tanzen. Deshalb spielte Sr. Hernandez nicht mehr auf seiner Gitarre. Schade. Etwa um 23.30 Uhr wurde das Fest abgebrochen. Ich hatte einige Cuba libre getrunken. Aber sie waren sehr schwach. Im Bus tauschte ich noch die Adresse mit Fidel und Gabriel Hernandez.
Dann ging ich mit einigen noch aufs Zimmer von Gabriela (Argentinien). Gilberto (Brasilien) war dabei, Conchita und Guiselle (Costa Rica). Gabriela gab mir ihre Adresse, ich ihr die meine. Conchita fragte mich um die meine. Ich glaube nicht, dass ich ihre Adresse wieder brauche. Sie gab sie mir. Gilberto fliegt auch am Montag und auch mit Cubana Aviación, aber erst um 16.00 Uhr, ich um 15.00 Uhr. Warum diese Zeitdifferenz? Dann verabschiedete ich mich von Gabriela. Sie flog am folgenden Morgen um 8 Uhr oder so ähnlich, hatte jedenfalls das Hotel um 06 Uhr zu verlassen. Gilberto wird übrigens nicht von unserer guagua abgeholt. Am Fest habe ich auch noch mit Ana Maria (Cuba) über meinen Transport gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass sie sich darum kümmern werde. Ich solle mich dreieinhalb Stunden vor Abflug im Hotel bereit halten. Das wäre also um 11.30 Uhr. Ich habe schon Reisefieber und freue mich riesig auf Leida und die Mutter und die ganze Familie in Brasilien.
Aufbruch
Montag, 18. Dezember 1989 — Heute ist alles ziemlich gut verlaufen. Morgens weckte mich Guiselle, sie wollte sich verabschieden und wollte nicht warten, um mit mir und Bolivar (Nicaragua) zu frühstücken, weil sie Pläne hatte. Ich duschte, rasierte mich und dann kam sie. Ich gab ihr die zehn Dollars, aber zu meinem Kurs. Kurz darauf erschien Ines (Brasilien). Sie gab mir ihre Adresse, ich ihr die meine. Dann verabschiedete ich mich von ihr und von Guiselle. Ich rief Gabriella (Schweizerin) an. Wir wollten zusammen frühstücken. Bolivar war offenbar nicht im Zimmer. Jedenfalls nahm er das Telefon nicht ab. Aber als ich mich anschickte, das Zimmer zu verlassen, erschien er. Ich erklärte ihm, dass ich ihn gesucht hatte. Er nahm das Paket für Dona Auxiliadora Palacios (die Schokolade, die mir Gabriella geschenkt hatte) und begleitete mich zum Frühstück. (Dona Auxiliadora Palacios war 1987 meine Gastmutter in Managua/Nicaragua.) Nach einiger Zeit trafen Gabriella und ihr Freund René ein. Bolivar verabschiedete sich von mir (Ich hatte ihm einen Brief für das EAWAG geschrieben). Später trafen Christian (ein Schweizer) und Javier (ein Nicaraguaner) ein. Ich verabschiedete mich von ihnen und auch von Maria Hernandez (Venezuela) und ihrer Familie.
Dann begleitete ich René zur Cubana Aviación, Gabriella ging zum DES. Bei der Cubana Aviación hatte ich meinen Rückflug von Brasilien wieder nach Cuba zu erledigen. Es stellte sich nun heraus, dass ich via São Paulo nach Lima fliege, was leider auch mit einem Zuschlag von US-$ 32.00 zusammenhing. Mein Flug von Rio nach Vitória war nach wie vor nicht bestätigt. Mal sehen, ob ich in Panama was erledigen kann.
Transfer
Kaum war ich wieder im Zimmer, klingelte das Telefon. Pünktlich um 11.30 Uhr war also mein chofer im Hotel. Ich telefonierte schleunigst René, gab ihm meine Schlüssel und verabschiedete mich von ihm. Gabriella war leider noch nicht zurück. Als ich mit Sack und Pack mein Zimmer verliess und auf den Lift wartete, fragte mich meine camarera, ob ich gehe. Ich konnte ja beladen mit so viel Gepäck nicht gut nein sagen. In der Lobby empfing mich schon ein Hotelboy mit einem Wägelchen, lud meinen Koffer auf und schubste sein Gefährt stracks zur caja, wo er sich irgendeinen Schein holte. Dann ging ich los zu meinem “Privattaxi” vom DES. Auf dem Weg zum Flughafen gewahrte ich mehrere Umleitungen, weil die Strassen neu gemacht bzw. weil Rohre verlegt wurden. Als ich am Flughafen José Martí ankam, durfte ich nicht eintreten, weil der Boden feucht aufgenommen wurde. Aber schon nach etwa 20 Minuten betraten andere Touristen das Gebäude. Ich stieg ihnen dann nach. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Reisegruppe aus Deutschland handelte. Ihr Flug hätte gestern am frühen Abend starten sollen. Aber er wurde von Stunde zu Stunde verschoben und letztlich musste sich die Fluggesellschaft um Hotelzimmer für die Passagiere bemühen. Sie verliessen nachts um 2 Uhr das Flughafengelände und warteten nun erneut auf einen Flug, von dem sie nicht wussten, ob er heute um 16 Uhr oder um 18 Uhr abgehen werde. Ihr Gepäck ist seit gestern eingecheckt.
Etwas später traf ich dann Gilberto (Brasilien) mit Frau, die ich erst heute kennen lernte. Er hatte sie den TeilnehmerInnen des Flacso-Kurses nie vorgestellt. Bis Rio reisten wir zusammen. Unser Flug startete erst um 16 Uhr.
US-Invasion in Panama
Wir mussten in Panama-City auf einen Anschlussflug warten. Doch dieser Flug wurde von Stunde zu Stunde verschoben. Gründe wurden nicht mitgeteilt. Erst Tage später entnahm ich der Presse und dem TV, dass in Panama Flüge infolge der Invasion von US-Truppen (cf. Spiegel online dazu), die gleichentags stattgefunden hatte, am Boden warten mussten. Den USA ging es bei dieser Invasion darum, den Machthaber Daniel Noriega in Panama zu entfernen, den sie/die CIA jahrelang aufgebaut und unterstützt hatte, um u.a. Geld- und Waffenlieferungen an die Contras gegen die Sandinistas zu vertuschen (cf. Wikipedia US-Invasion in Panama)
Weiterbildner an der Uni von Havanna
Zum Praktikumsauftrag gehörte für alle NADEL-Teilnehmenden die theoretische Vorbereitung auf den Praktikumseinsatz in Form einer schriftlichen Dokumentation. Diese Dokumentation stellte ich im Frühjahr 1989 zusammen und legte sie dem NADEL vor.
Vorbereitung
In der Einleitung heisst es: «Die vorliegende Arbeit dient der persönlichen Vorbereitung auf einen Praktikumseinsatz in Kuba, wie es das NADEL-Reglement erfordert. Dabei muss eines klar sein: Diese Arbeit ist zwar abgeschlossen — die Vorbereitungen sind es dagegen nicht. In diesem Sinn stellt dies einen Zwischenhalt dar auf dem Weg, der bis zum Praktikum weitergeht.»

Über den zweiten Teil meines Praktikumeinsatzes war ich nur vage informiert. In meiner Einleitung hiess es: «Frau Adelita Baeza, Kontaktperson in der Schweiz, schreibt in ihrem Bericht am 19.1. [1988] zum Praktikumseinsatz: ‘In Havanna werden zur Zeit drei Barrios saniert. Diese Arbeit wird von der Gruppe der integralen Entwicklung der Hauptstadt (Grupo de Desarrollo Integral de la Capital) geleitet. Sie soll ein Modell für weitere Sanierungsmassnahmen in der Hauptstadt und in den Provinzen sein.
Der Arbeitsplatz ist im Barrio La Güira. Eine slumartige Siedlung ausserhalb des Zentrums von La Habana. In diesem Barrio — wie in den zwei anderen — hat sich ein Taller de Transformacion integral gebildet. Dieser besteht aus einem interdisziplinären Team. Alle wohnen in dem Barrio: ein/e Archtekt/in, Sozialarbeiter, Pädagoge, Ethnologe, Lider des Barrios etc. Diese Gruppe beschäftigt sich mit der integralen Transformation des Barrios. Bei der Sanierung müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden: soziale und kulturelle Faktoren, Lebensart, Gewohnheiten usw.
Der Bau der Wohnungen wird durch die sogenannten Microbrigadas als Selbstbau gemacht. Dies ist eine sehr interessante Erfahrung. Die Art und Weise, wie der Selbstbau finanziert und organisiert ist, ist mindestens in Lateinamerika einmalig, soviel ich weiss.’
Zu meiner speziellen Vorbereitung schreibt Frau Baeza im erwähnten Bericht: ‘Der Student von NADEL wird Mitglied des Taller de Transformación Integral, und wird sich hauptsächlich mit Animation und Organisation von Aktivitäten beschäftigen: Animation von Gruppen, Gruppendynamik etc. auf der Basis von Educación Popular. (…) Técnicas participativas para la Educación Popular1. Dieses Buch ist für diese Art von Arbeit in Lateinamerika sehr empfehlenswert. (…) Als Vorbereitung haben sie die Anschaffung von Literatur und Kenntnissen über angepasste Technologie über Installation, WC, Verwendung von Abwasser, ökologische Massnahmen etc. empfohlen.’ Zu diesem Zweck besuchte ich die EAWAG in Dübendorf, wo mich Herr Martin Strauss beriet und mich mit einschlägiger Literatur bekannt machte.
Mein Kurs an der Universidad de La Habana
Ich hatte wöchentlich 1 Doppelstunde Unterricht zu erteilen. Die Kursteilnehmenden meines Kurses waren Lehrpersonen aus der Region Metropolitana.

Die Vorbereitungen, die ich für jede Doppellektion niederschrieb, stellte ich auf Wunsch der Teilnehmenden zu einem Skript zusammen, das ich in der Schweiz in 30 Exemplaren fotokopierte und dem DES zustellte.
Weitere Erfahrungen
5. Februar 1990 — Briefe sind wie eine erfrischende Dusche an einem heissen Abend in einem tropischen Land: Sie erfrischen, stärken, sind Motivation und verleihen sozusagen das Gefühl, man sei frisch geboren. Denn mit den Briefen ist auch wieder ein Stück jener Identität zurückgekommen, die man vor einiger Zeit in der Heimat zurückgelassen hat.
Da ich im Moment mit Nachrichten über das Weltgeschehen nicht gerade überhäuft werde, scheinen mir die Kontinente weit auseinander zu liegen, scheinen verschiedene Welten zu sein. Briefe haben in dieser Situation die Wirkung, dass die Welt wieder enger zusammenrückt, die Ereignisse in den verschiedenen Weltgegenden rücken näher und die Briefe meiner Freunde sind Zeichen dafür, dass auch ich irgendwie mit allem Geschehen verbunden bin.
Wenn mir das Gefühl der Verbundenheit teils abhanden gekommen ist, liegt das an dreierlei: Zunächst spielt die materiell-technische Schranke eine Rolle. Denn ich habe kein Radio, und die beiden hauseigenen TV-Apparate sind nicht funktionstüchtig. Bleibt also das persönliche Gespräch auf der Strasse oder zu Hause und die Nachrichten aus den Zeitungen. Hier beschränken aber meine Spanischkenntnisse die Verständigung in erheblichem Masse. Und der dritte Faktor ist der ideologisch-politische Filter, dem die Zeitungen hier unterworfen sind. Irgendwie ist dieser Filter auch verständlich. In Industrienationen des Westens wird man mit Informationen überschwemmt. Ob der reichen Informationsflut übersieht es sich viel leichter, worüber nicht berichtet wird. Ablenkungsmanöver fallen gar nicht auf und wirken dank ihrer Subtilität umso mehr. In Kuba ist die Informationsstrategie wohl umgekehrt. Praktisch alle Nachrichten erscheinen nur dann in den Medien, wenn sie für Kuba relevant sind, und selbstverständlich übernehmen die Medien auch die Aufgabe, für den Leser den Zusammenhang der Ereignisse mit Kuba herzustellen. Was relevant ist und was nicht, bestimmen — wie bei uns im Westen auch — die Redaktionen, hinter denen aber nicht die Augen der Wirtschaftskapitäne mitlesen und zensurieren wie bei uns sondern vermutlich die der Partei. In der Tat: Probleme, an denen sich öffentliche Diskussionen entzünden könnten, gibt es in Kuba zuhauf. Kaum in Frage gestellt werden die Errungenschaften der Revolution. Viel zu reden und zu überlegen geben die Entwicklungen, die im Moment im Ostblock ablaufen. Das sind nicht bloss und vermutlich nicht einmal in erster Linie Sorgen ideologischer sondern wirtschaftlicher Natur. Denn wenn die Wirtschaft in Gefahr ist, ist auch der Sozialismus gefährdet. Seit dem Anfang der Revolution kämpft das kubanische Volk nicht bloss gegen den Imperialismus, sondern wie alle Länder des Trikonts auch noch gegen die Rückständigkeit. In den vergangenen 30 Jahren hat Kuba doch Anlass zu Hoffnung gegeben. Aber Kuba ist auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ostblock dringend angewiesen. Denn seit Jahren strengt sich diese Insel an, im Rahmen des Ostblocks auf eine neue Weltwirtschaftsordnung hinzuarbeiten. Und nun drohen die lebenswichtigen Ostblockmärkte verloren zu gehen. Es geht aber nicht nur um den Absatz kubanischer Exporte, es geht auch um die Beschaffung dringend benötigter Ersatzteile, lebenswichtiger Rohstoffe aus dem Ausland zu einem fairen Preis. In dem Mass, wie diese wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Osten verunmöglicht wird, findet die anhaltende US-Handelsblockade gegen Kuba wieder Halt. Anlässlich eines Gewerkschaftskongresses sprach Fidel Castro von dieser unsicheren Zukunft. Er entwarf verschiedene, schlimme und sehr schlimme Szenarien, die alle darauf hinauslaufen, dass Kuba von der übrigen Welt isoliert wird, dass der Osten sein karibisches Bruderland allein im Regen stehen lassen kann. Das ist just der Hintergrund, auf dem die US-Aggression, die wieder zugenommen hat, zu lesen ist. Im Spätherbst fielen Schüsse, ausgehend von der US-Militärbasis Guantánamo, die haarscharf an kubanischen Wachtposten vorbeipfiffen. In wenigen Wochen soll die US-amerikanische Fernsehstation José Martí ihre Sendungen nach Kuba ausstrahlen — dies eine Verletzung des geltenden Völkerrechts. Vor wenigen Tagen wurde ein kubanisches Frachtschiff von der US-amerikanischen Küstenwache in internationalem Gewässer unter Beschuss genommen, weil sich die kubanische Besatzung weigerte, den US-Beamten Zutritt zum Frachter zu verschaffen. Als Vorwand diente den US-Beamten die Drogenfahndung. Es gelang den Cubanos, ihren Frachter schliesslich in mexikanisches Hoheitsgebiet zu bringen. Das alles sind “Mückenstiche”, auf die aber die Kubaner sehr empflindlich reagieren. Gerade das letzte Ereignis löste in der Hauptstadt und in der nationalen Presse eine Welle der Entrüstung aus. Es gab eine Kundgebung in der Nähe der US-Botschaft mit tausenden von Teilnehmenden. Wieweit die Teilnahme politischer Überzeugung jedes Einzelnen entsprang und wieweit sich Mitläufer aufgrund der gewiss erheblichen sozialen Kontrolle mobilisieren liessen, bleibe dahingestellt. Jedenfalls wirkt der Staat sehr sensibel. Und mit dem Staat als Ganzem scheinen sich die Kubaner in einer überwiegenden Mehrheit noch lange zu identifizieren, auch wenn sie einzelne Unzulänglichkeiten nicht mehr lange hinzunehmen bereit sind.
